Wer ist hier eine Gefahr für die Demokratie? Ein Kommentar zu den aktuellen Aussagen von Boris Palmer und ihren Wirkungen
Provokationen – und dann?
In Tübingen ist Oberbürgermeister_in-Wahlkampf. Das heißt für viele Menschen mit Diskriminierungserfahrungen, dass sie beim Zeitunglesen häufig tief durchatmen müssen.
Boris Palmer verkündet am 15.9.2022 in seinem Interview mit der Südwest-Presse, dass er sich Sorgen um die Demokratie macht. Er sieht sie bedroht durch Identitätspolitik, die seiner Ansicht nach die Gesellschaft zerstört und durch marginalisierte Gruppen, die sich für ihre Rechte einsetzen. Boris Palmer schürt damit den Hass. Das Tagblatt und die Südwest-Presse geben dem bereitwillig eine Plattform und ein Mikrofon.
Als adis e.V. arbeiten wir uns gewöhnlich nicht öffentlich an Einzelpositionen ab. Wir stecken die Ressourcen, die wir haben, in unsere Arbeit. In die Beratung, Empowermentprojekte, Bildungsangebote, Diskriminierungskritische Organisationsentwicklung und auch in erfolgreiche Kooperationen mit der Stadtverwaltung. Aber im Rahmen des OB-Wahlkampfes braucht es eine Vielzahl von vernehmbaren Gegenstimmen, die sagen: das Maß ist voll – und zwar schon lange. Palmers Aussagen treffen auf strukturellen Rassismus, Sexismus, Cis-/Heteronormativät und Ableismus. Sie nähren diese Strukturen, legitimieren Hass und bilden Boden für Gewalt.
Welcher Hass?
Auch in diesem Sommer haben Menschen in Deutschland Diskriminierung in Form von körperlicher Gewalt erlebt – und in einigen Fällen nicht überlebt.
Am 2.9.2022 ist ein trans Mann nach einem lesben- und transfeindlichen Übergriff beim CSD Münster gestorben. Bei vielen CSDs/Prides 2022 gab es im Nachhinein Berichte von Übergriffen in verschiedenen Städten. Mehrere Menschen, die von Rassismus und Ableismus betroffen sind, wurden von der Polizei getötet. Verbale rassistische Übergriffe von Polizist_innen wurden auf Video publik. Diese Beispiele lassen sich mit den Erfahrungen aus der Antidiskriminierungsberatung in alle Richtungen erweitern.
Diese Fälle zeigen wieder einmal, dass diskriminierende Sprache und körperliche Gewalt zusammenhängen. Sprache wird als Werkzeug für Erniedrigung und Ausdruck von Verachtung genutzt und schafft eine Realität. Menschen, die diese nicht hinterfragen und unreflektiert an Betroffene richten, fühlen sich offensichtlich sicher genug, das auch in der Öffentlichkeit oder im Rahmen ihres Arbeitsauftrages zu tun. Werden Stimmen gegen Diskriminierung laut, ist auch mit körperlicher Gewalt zu rechnen. Was muss noch passieren, bis die gewaltvolle Wirkmacht von Sprache und ihr Zusammenhang mit körperlicher Gewalt in öffentlichen Diskursen ernst genommen wird?
Benachteiligung und verschiedene Formen von Gewalterfahrungen gegen Menschen mit Diskriminierungserfahrung ist die gesellschaftliche Realität, mit der wir uns im Rahmen unserer Arbeit (als Berater_innen, Trainer_innen und in der Jugendarbeit) und in unseren Communities auch in Tübingen jeden Tag konfrontiert sehen. Die sich häufenden bundesweiten Medienberichte machen uns Sorgen. Sie spiegeln unsere Erfahrungen vor Ort wider. Wenn ihr euch mit uns sorgt, ist der Text für euch.
„Bettvorlieben, Opferstatus und Hautfarbe“ – echt jetzt?
Im Interview behauptet Palmer „Im Grundgesetz steht, dass öffentliche Ämter nach Leistung, Eignung und Befähigung vergeben werden. Es gibt eine Bewegung in Deutschland, die will diese drei Wörter streichen und durch Bettvorlieben, Opferstatus und Hautfarbe ersetzen. Das ist im Prinzip das, worauf die Identitätspolitik hinausläuft: Öffentliche Ämter nicht mehr für alte, weiße Männer, sondern für homosexuelle Frauen, die Diskriminierungserfahrung haben.“
Bettvorlieben? Diese Rhetorik setzt auf Entmenschlichung, Othering und Sexualisierung. Sie ist abwertend und offensichtlich kein Beitrag zu einer „Versachlichung der Debatte“. Wo ist der Bezug zur Realität, wenn überhaupt nur 9 Prozent der Bürgermeister_innen Frauen sind? Ist dies – wie Boris Palmer suggeriert – das Ergebnis, wenn bisher rein nach Leistung, Eignung und Befähigung öffentliche Ämter vergeben wurden?
Aussagen wie diese diskreditieren Menschen, die Ämter anstreben und innehaben. Wieso derartige Behauptungen, wenn zahlreiche Studien zeigen, dass lokale und bundesweite Gremien weiterhin nicht die Zusammensetzung der Bevölkerung widerspiegeln? Wieso denjenigen die Kompetenz absprechen, die mit Diskriminierungserfahrungen in diesen Jobs arbeiten?
Unsere Erfahrung in Zusammenarbeit von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen in mehreren Kommunen in Baden-Württemberg ist, dass sie mehr leisten und mehr aushalten müssen, um ein Amt zu bekleiden.
In Tübingen gibt es marginalisierte junge Menschen mit fundiertem Wissen zu Diskriminierung. Sie engagieren sich gegen Ungleichbehandlung und machen das in unzähligen lokalen Projekten und Gruppen. Aussagen, die ihre Erfahrungen und das Engagement ins Lächerliche ziehen und verachten, haben Konsequenzen für das demokratische Miteinander in Tübingen. Aktive junge Menschen ziehen sich zurück und sehen keine Sinnhaftigkeit mehr darin sich im Stadtgeschehen aktivistisch und politisch zu engagieren. Denn sie werden mit den hier zitierten Aussagen verletzt und diskreditiert.
Warum soll es um „Bettvorlieben, Opferstatus und Hautfarbe“ gehen, wenn homosexuelle Frauen mit Diskriminierungserfahrung ein Amt bekleiden, aber nicht, wenn ein weißer heterosexueller Mann OB bleiben will?
Worauf Identitätspolitik tatsächlich hinausläuft, ist, dass Politik nicht von vornherein bestimmte Gruppen und Bedürfnisse ignorieren kann.
Identitätspolitik – „Das zerstört eine Gesellschaft komplett.“
Dass Minderheiten sich Gehör verschaffen und nicht mehr so leicht zu ignorieren sind, wird als zerstörerisch für Demokratie dargestellt. Diese Rhetorik bietet den Nährboden für Gewalt. Was Demokratie zerstört, darf legitimerweise bekämpft werden. Das ist eine Einladung, marginalisierte Personen und Gruppen zu bekämpfen, um die Demokratie zu schützen. Wie kann ein Oberbürgermeister und eine Zeitung nicht erkennen, wie gefährlich das ist?
Marginalisierte Personen treten für ihre Rechte ein, für gleichberechtigte Teilhabe an Demokratie. Am Beispiel des Selbstbestimmungsgesetzes geht es um das Recht, in der eigenen Person und Geschlechtlichkeit anerkannt zu werden. Der Rechtsanspruch gilt für alle Menschen, ist aber für viele trans, inter und nicht-binäre Personen bisher nicht umgesetzt. Es geht um gleiche Rechte und Schutz vor Diskriminierung, den das Bundesverfassungsgesetz den Gesetzgebenden immer wieder aufgetragen hat. Aus gutem Grund werden Grundrechte nicht nach Mehrheitsentscheidung vergeben, sondern sind in der Verfassung verankert. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz erkennt gesellschaftliche Benachteiligung an und erlaubt positive Maßnahmen zu ihrem Ausgleich. Soziale Bewegungen, die den Zugang zu diesen Rechten realisieren möchten, verächtlich und verdächtig zu machen, ihnen die Zerstörung der Demokratie vorzuwerfen – das ist der tatsächliche Angriff auf die demokratische Grundordnung.
Diejenigen, die Diskriminierung benennen, als die Störenfriede darzustellen, anstatt die Diskriminierung als Problem anzuerkennen und zu bekämpfen, ist die klassische Abwehrreaktion der gesellschaftlich Mächtigen.
Es ist eine gefährliche Behauptung, dass marginalisierte Gruppen als Minderheiten entscheiden würden, was die Mehrheit zu tun hat oder sagen darf. Das ist Stimmungsmache und die Erfindung eines Bedrohungsszenarios. Es gibt das Recht auf freie Meinungsäußerung. Das ist für ‚alte weiße Männer‘ nicht in Gefahr. Es gibt kein Recht darauf, unwidersprochen zu bleiben. Marginalisierten Gruppen geht es gerade nicht um Dominanz, sondern darum, mit ihren Anliegen gesehen und gehört zu werden. Solidarität der Mehrheitsgesellschaft äußert sich darin, diese Erfahrungen und Anliegen ernst zu nehmen und ihnen mit Respekt zu begegnen.
Macht Palmer nur Politik mit Ecken und Kanten?
Immer wieder werden Aussagen von Palmer als weitgehend harmlose Provokationen abgetan. Anerkennung und Rechte von marginalisierten Menschen und Gruppen sind nicht verhandelbar, sondern essenziell. Die vermeintlichen Ecken und Kanten sind Aussagen, die Menschen verächtlich machen und das Leben von Menschen in Tübingen belasten. Sie sind ein reales Risiko. Zunächst für diejenigen, gegen die Stimmung gemacht wird und dann für uns alle, weil die Positionen anschlussfähig nach rechts und Teil rechter Mobilisierung sind.
Einen OB zu wählen, für den Diskriminierung zur öffentlichen Persönlichkeit gehört, ist eine bewusste Entscheidung. Eine Wiederwahl gibt diesen diskriminierenden Standpunkten für die nächsten 8 Jahre Legitimität und noch mehr Raum. Jetzt ist der Zeitpunkt, Verantwortung zu übernehmen und eine diskriminierungskritische Perspektive einzubeziehen.
adis e.V. ist Trägerin der professionellen Antidiskriminierungsarbeit in der Region Reutlingen/ Tübingen und Fachstelle zum Thema Diskriminierung und Empowerment in Baden-Württemberg.