Das Problem sind nicht nur die unkontrollierten Affekte!

Kommentar von adis e.V. zur Auszeit von Boris Palmer vom 3.5.2023

Das Problem sind nicht nur die unkontrollierten Affekte!

Kommentar von adis e.V. zur Auszeit von Boris Palmer vom 3.5.2023

Der Tübinger Oberbürgermeister zieht erste Konsequenzen aus der massiven Kritik an seinem Auftritt rund um die umstrittene Frankfurter Migrationskonferenz und kündigt eine Auszeit an. Seine Begründung greift aber deutlich zu kurz und lenkt vom eigentlichen Problem ab.

Er reduziert sein Fehlverhalten auf unkontrollierte Affekte, die er mit seiner Familienbiografie begründet. Das ist respektabel und nachvollziehbar, entbehrt bei seiner gleichzeitigen Empathieverweigerung gegenüber allen von Diskriminierung betroffenen Gruppen nicht einer gewissen Ironie.

Aber es geht um etwas anderes. Das Problem sind eben nicht nur unüberlegte Reaktionen, wenn er sich angegriffen fühlt. Das Problem sind seine wohlüberlegten Positionen, wenn er angreift.

Und selbst wenn er sich dann wieder falsch verstanden fühlt, und sich für die von ihm so nicht beabsichtigte Wirkung entschuldigt, beharrt er gleichzeitig darauf, inhaltlich recht zu haben. Das Problem „Palmer“ ist nicht zuerst eine Frage des richtigen Tons und Timings, nicht eine Frage von fehlender empathischer Kommunikation und Respekt. Das Problem „Palmer“ ist, dass er mit seiner politischen Agenda, die sich immer wieder gegen eine menschenrechtsorientierte Gesellschaft richtet, ganz konkret Schaden anrichtet – persönlichen Schaden und gesellschaftlichen Schaden.

Noch vor einer Woche hat er auf die aufkommenden Rücktrittsforderungen aufgrund seiner Äußerungen nach dem Mord an Basiru Jallow geschrieben: „Früher wurden die zum Rücktritt aufgefordert, die lügen, heute die, die die Wahrheit sagen“. Boris Palmer wird seinem Anspruch „Erst die Fakten, dann die Moral“ aber nicht gerecht, wenn es um die Verteidigung von Menschenrechten und den Schutz von vulnerablen Gruppen vor Stigmatisierung, Ausschluss und Gewalt geht. Er benutzt (immer wieder) die Macht seines Amtes, um mit scheinbaren Fakten obsessiv Gruppen zu stigmatisieren und damit ihre Verletzbarkeit noch zu erhöhen.

Nach dem Mord an Basiru Jallow hat er – ohne jegliche Kenntnis des Tathergangs, des Täters wie des Opfers – reflexhaft einen Zusammenhang mit Drogen hergestellt. Das waren keine Reaktionen im Affekt, niemand hatte ihn provoziert oder angegriffen. Aber es waren eben keine Fakten, sondern eine rassistische Vorverurteilung. Dann veröffentlicht er interne Informationen zum Opfer aus dessen Ausländerakte, um hinterher zugeben zu müssen, dass ein Teil der von ihm leichtfertig hinausposaunten sehr persönlichen Informationen so nicht stimmen.

Die Fakten zum Thema Botanischer Garten und der damit verbundenen Drogenthematik wurden nun am vergangenen Samstag im ganzseitigen Interview des Schwäbischen Tagblatts von einer Runde von Sachverständigen von Aidshilfe, Drogenhilfe, Asylzentrum, Polizei und der ersten Bürgermeisterin präsentiert. Nichts, aber auch gar nichts von Boris Palmers Vorverurteilungen ist übriggeblieben.

Wie wirksam Boris Palmer aber mit diesen von ihm reproduzierten stereotypen Bildern ist, haben wir erlebt, als wir selbst von uns nahestehenden Personen dafür angegriffen wurden, für einen „Drogendealer“ eine Trauerfeier zu organisieren, oder als Menschen in unsere Beratungsstelle kamen und uns deswegen beschimpften.

So funktioniert Diskriminierung. Wiederhole immer wieder die gleiche Geschichte (ob sie stimmt oder nicht), irgendwann bestimmt diese Geschichte das Bild über eine Gruppe so, dass die einzelnen Menschen dahinter nicht mehr sichtbar sind und die Ausschlüsse und Angriffe gegen diese Gruppe legitim erscheinen.

Wenn wir hier von dem „Problem Palmer“ sprechen, dann auch deswegen, weil es nicht um ihn als Person geht. Er kann mit gutem Recht darauf verweisen, dass er genau für diese politische Agenda gewählt worden ist. Von einem Teil der Wähler_innen sicher bewusst aufgrund dieser Agenda, von einem Teil sicher auch trotz dieser Agenda. Aber keine_r kann sagen, dass es eine Mogelpackung war. Boris Palmer zu wählen, war auch eine Abstimmung dafür, die ständige Herabsetzung von Menschen mit Diskriminierungserfahrung zumindest in Kauf zu nehmen und damit salonfähig zu machen.

Mit der Verharmlosung des Holocausts durch seinen völlig unangebrachten Judensternvergleich ist ohne Frage eine Linie überschritten, die aus gutem Grund eine rote Linie ist. Aber wie viele rote Linien hatte Boris Palmer vorher überschritten, ohne dass es wirklich eng für ihn wurde. Wenn sich nun die politische Öffentlichkeit von ihm abwendet und ihm selbst enge politische Weggefährt_innen die Unterstützung entziehen, so bleibt die Frage, warum dies erst jetzt passiert.

adis e.V. hat wahrscheinlich auch nicht ausreichend, aber immer wieder auf seine für einen Repräsentanten einer Stadt absolut nicht hinnehmbaren ausgrenzenden Äußerungen hingewiesen, beispielsweise zum Thema Racial Profiling ging[1]oder seine ständigen Diffamierungen von Trans*Personen[2]. Wir haben die Stimmen von Menschen veröffentlicht, die von seinen spalterischen Aussagen direkt betroffen sind[3]. Vor der Wahl hat ein adis-Kollege in einem ausführlichen Brief an seine Freund_innen, die überlegen Boris Palmer zu wählen, dargelegt, warum er aufgrund der ständigen Reproduktion von rassistischen und transfeindlichen Klischees als Oberbürgermeister nicht wählbar ist[4].

Der aktuelle Vorfall mit der wiederholten und bewusst provozierenden Verwendung des N-Wortes ist nur ein weiterer Vorfall in einer langen Reihe, die eben nicht deswegen ein Problem ist, weil es ihm rausrutscht, sondern weil er genauso denkt.

Auf der Kundgebung „not in our name – blame rasisms not the victim“[5] am 1. April 2023 forderten Vertreter_innen der gambischen Community von Boris Palmer, dass er als Stadtoberhaupt die Stadtgesellschaft vereinen und nicht spalten und gegeneinander ausspielen solle.

Dieser Aufgabe wird Boris Palmer nicht gerecht.

In der ersten Version dieses Kommentars haben wir fälschlicherweise statt von der „Ausländerakte“ von der „Polizeiakte“ gesprochen. Für diesen ärgerlichen Fehler entschuldigen wir uns und stellen zerknirscht fest, dass es manchmal gar nicht so leicht ist mit den Fakten.

[1] https://adis-ev.de/publikationen/mediathek/mediathek-racial-profiling-was-tun-video

[2] siehe den Kommentar von adis e.V. https://adis-ev.de/wer-ist-hier-eine-gefahr-fuer-die-demokratie-ein-kommentar-zu-den-aktuellen-aussagen-von-boris-palmer-und-ihren-wirkungen

[3] https://adis-ev.de/publikationen/mediathek/nie-wieder-schon-wieder-tuebinger-stimmen-zu-rassismus oder https://adis-ev.de/publikationen/mediathek/rassismus-in-tuebingen-entwicklungen-engagement-und-visionen

[4] https://www.rassismuskritik-bw.de/?ddownload=1824

[5] Ein Bericht zur Kundgebung: https://adis-ev.de/bericht-von-der-kundgebung-not-in-our-names