In welcher Gesellschaft leben wir?

Ende April war es wieder soweit, die Leser*innen-Brief-Spalten sind voll, Facebook läuft heiß, Zeitungen führen Interviews und schreiben Kommentare. Es darf aber auch mit etwas Abstand über die letzte Provokation des Tübinger OB diskutiert werden. Denn es geht im „Shitstorm“ um die Werbekampagne der Bahn um nichts weniger als die Frage, wer sich zugehörig fühlen darf und wer nicht.

In welcher Gesellschaft wir leben, wer zu uns gehört, wer willkommen ist und vor allem, wer das „wir“ und „uns“ ist, wird auch über Bilder und Repräsentation in den Medien und im öffentlichen Raum beeinflusst. Dass die Deutsche Bahn in ihrer Werbekampagne neben weißen Menschen auch Schwarze Deutsche abbildet, begrüßen wir ausdrücklich. Dass Schwarze Deutsche Teil der Gesellschaft sind, wird dadurch ins gesellschaftliche Bewusstsein geholt. Das ist wichtig, da uns die Erfahrung aus der Antidiskriminierungsberatung zeigt, dass diese Zugehörigkeit oft abgesprochen wird und Schwarze Menschen in ihrem Alltag in Tübingen auf verschiedenen Ebenen Ausgrenzungen, Reduzierungen und Respektlosigkeiten erleben.

Es gibt einen Mangel an positiver Repräsentation Schwarzer Menschen in Deutschland. Schwarze Menschen kommen entweder nicht vor oder werden als fremd, minderwertig oder gar kriminell dargestellt. Für Schwarze Menschen, die wenig positive Identifikationsfiguren haben und denen täglich direkt und subtil gezeigt wird, dass sie nicht zur Gesellschaft dazugehören, haben rassistisch belegte Vorurteile eine sehr große Wirkmacht. Das führt beispielsweise dazu, dass viele Schwarze Kinder sich helle Haut wünschen und Schwarze Jugendliche sich stets in Habachtstellung befinden. Sie spüren, wer als normal und schön oder als anständig und nicht-kriminell gesehen wird und wer im Gegensatz dazu zu den „Anderen“ gezählt wird. Auch aufgrund Schwarzer Haut sofort als „Mensch mit Migrationsgeschichte“ wahrgenommen zu werden, ist unfair, schmerzhaft für die Betroffenen und sachlich nicht zutreffend. Schwarze Menschen haben verschiedene Herkunftsgeschichten, einige von ihnen haben keine Migrationsgeschichte, ihre Familien leben schon seit Jahrhunderten in Deutschland.

In der Empowermentarbeit bei adis arbeiten wir deshalb auch mit der Methode der positiven Repräsentation. Hier werden Schwarze Vorbilder gezeigt, es wird dadurch möglich, das eigene Schwarzsein als Normalität zu erfahren. Deswegen freuen wir uns, wenn Institutionen Schwarzsein als einen normalen Bestandteil dieser Gesellschaft darstellen. Denn wir wissen, dass Schwarze Menschen dadurch gestärkt werden.

Die Vorstellung davon, was Normalität ist und wer normal ist, produziert Einschlüsse und Ausschlüsse, die die Grundlage von Rassismus und Diskriminierung bilden. Debatten wie diese haben reale Auswirkungen auf Menschen, die immer wieder erleben, dass ihre Teilhabe und Zugehörigkeit hinterfragt wird, abgesprochen wird und erkämpft werden muss. Es erzeugt Frust und Enttäuschung, wenn nicht einmal eine Werbung eines großen Konzerns mit einigen prominenten Schwarzen Deutschen stehen gelassen werden kann, wenn ein banaler Vorstoß Richtung Diversität solche Widerstände hervorruft, die dann medienwirksam breitgetreten werden. Zumal die Realität für Schwarze Menschen beim Bahnfahren vielfach anders aussieht:

Ein aktueller Fall unserer Antidiskriminierungsberatung zeigt, dass die deutsche Bahn trotz der vielversprechenden Diversity-Kampagnen in der Umsetzung keine einheitliche Haltung hat.Eine schriftliche Eingabe unsererseits zu einem rassistischen Vorfall bei der Beschwerdestelle der DB Regio blieb auch nach monatelangen telefonischem Nachhaken unbeantwortet.

Wir wünschen uns eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Rassismus in Tübingen. Rassismus (und andere Formen der Diskriminierung) beschreibt Ungleichbehandlung und Abwertung aufgrund ungleicher gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die geschichtlich verankert sind. Deshalb gibt es auch keinen umgekehrten Rassismus gegen Weiße. Wenn in einem weiß dominierten Land in einer Werbung weiße Menschen in der Minderheit sind, kehrt das nicht bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse um und wischt eine Geschichte von Kolonialismus und Unterdrückung weg. Das zu behaupten – vor allem in der herausgehobenen Position als OB – richtet ernsthaften Schaden an. Wir unterstellen den beteiligten Personen diese Absicht nicht und wünschen uns deshalb umso mehr, dass sie ihr Sprechen und Handeln reflektieren. Wir stehen mit unserer Expertise aus der Antidiskriminierungs- und Empowermentarbeit gerne zur Verfügung.