Rassistisch und brandgefährlich – ein Kommentar zur „Stadtbild“-Debatte in Tübingen von adis e.V., Fach- und Beratungsstelle für Antidiskriminierung und Empowerment in Tübingen/Reutlingen und Baden-Württemberg

 

Das Recht auf öffentlichen Raum

Nach Artikel 3 des Grundgesetzes sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und keine Person darf benachteiligt oder bevorzugt werden. Dieses Verbot der Benachteiligung bedeutet indirekt das Recht auf Teilhabe am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben. Alle Menschen haben das gleiche Recht sich im öffentlichen Raum aufzuhalten. Das Recht ist nicht verhandelbar.

 

Boris Palmers Aussagen in der Stadtbild-Debatte sind rassistisch

In der „Stadtbild“ Debatte werden Menschen pauschal als Gruppe abgewertet. Das ist Diskriminierung. Und in Bezug auf Herkunft oder Hautton wird dies als Rassismus bezeichnet. Die Verknüpfung von Migration und Kriminalität im öffentlichen Räumen ist ein immer wieder verwendetes rassistisches Narrativ. Es bleibt auch rassistisch, wenn Äußerungen sich im Nachhinein vermeintlich nicht auf alle Mitglieder der Gruppe beziehen. Boris Palmer trifft diese Aussagen – immer wieder.

Diese Worte treffen. Es trifft all die Tübinger_innen mit Migrationsgeschichte, mit Fluchtgeschichte, Schwarze Deutsche, Menschen, die seit vielen Generationen in Deutschland leben oder gerade erst hierhergekommen sind. Menschen, die Tübingen ihr zu Hause nennen. Sie werden vom Oberbürgermeister der Stadt Tübingen wieder abgewertet, für fremd erklärt, unter Verdacht gestellt, angegriffen und verletzt.

 

Warum die Stadtbild Debatte brandgefährlich ist

Gruppen von Menschen für unerwünscht und störend zu erklären und sich ihr Verschwinden zu wünschen ist menschenverachtend. Es läuft den Menschenrechten und dem Gleichheitsgrundsatz im Grundgesetz zuwider. Es sind keine harmlosen Äußerungen.

Es ist brandgefährlich, Positionen von „Remigration“ und Vertreibung von „Unerwünschten“ zu übernehmen und zu vertreten. Die rhetorische Verbindung der „Stadtbild“- Formulierung zum Nationalsozialismus ist erschreckend. Ob dahergesagt, Tabubruch oder Strategie – es ebnet den Weg für menschenfeindliche Politik, stärkt die AfD und andere rechtsextreme Kräfte.

Diese Debatten haben auch erwiesenermaßen nicht den Effekt, die AfD zu schwächen. Mit seiner Rhetorik stärkt Boris Palmer rechte Positionen. Ähnlich wie bei der Podiumsdiskussion im September in Tübingen, als er die AfD aktiv eingeladen und ihren menschenfeindlichen Positionen eine Bühne geboten hat. Er hat damit den Grundkonsens für viele Tübinger_innen gebrochen, dass Rechtsextreme in Tübingen keine Plattform bekommen.

 

Anstieg von Rassistischer Gewalt

Als Antidiskriminierungsberatungsstelle betonen wir, dass rassistische Diskriminierung in Tübingen und der Region ein großes Problem ist. Es kommen in unsere Beratungsstelle viele Menschen, die rassistische Beleidigungen, rassistischen Personenkontrollen und Verweigerung von Teilhabe im öffentlichen Raum erleben.

Rassistische Gewalt und Anfeindungen sind bundesweit in kürzester Zeit angestiegen – gleichzeitig wird bei Schutz, Beratung und Prävention gekürzt. Viele Menschen mit Rassismuserfahrungen haben zunehmend Angst, Sorge und auch Wut. Die „Stadtbild“ Debatte verschärft die Situation und befeuert sie auch in Tübingen. Immer mehr sind müde, weil ein rassistischer Tabubruch dem nächsten folgt. Viele Menschen fühlen sich in Deutschland und in Tübingen schon lange nicht mehr zuhause.

 

Instrumentalisierung

Es ist respekt- und anstandslos Erfahrungen von sexualisierter Gewalt zu instrumentalisieren.

Dabei wird in der „Stadtbild“ Debatte wieder einmal ein rassistisches Narrativ bedient, das pauschal „fremde“ Männer als Täter und weiße Frauen als Opfer zeichnet. Dabei ist erwiesen, dass das Problem Männer sind, egal welcher Herkunft.

Studien zeigen zudem, dass Frauen sexualisierte Gewalt vor allem im Nahen Umfeld (Familie, Nachbarschaft, Beruf, Freizeit) erleben. Was es braucht, sind Frauenhäuser, Beratungsstellen und Angebote – Bereiche, die auch die Stadt Tübingen im letzten Jahr auf die Streichliste bei den Haushaltsverhandlungen gesetzt hat.

 

Und jetzt?

Natürlich sehen auch wir Probleme im öffentlichen Raum, zum Beispiel Armut, Gewalt und mangelnde Perspektiven. Wir wünschen uns eine Stadt, die komplexe Lösungen für komplexe Lebenssituationen sucht und nicht gesamtgesellschaftliche Probleme auf marginalisierte Gruppen abwälzt. Als kurzfristigen Hebel wünschen wir uns eine Stadt, in der die Soziale Arbeit im öffentlichen Raum wie offene Jugendarbeit und Streetwork nicht abgebaut (sowie Empowerment- und Community Arbeit gestärkt wird.

Es ist ein gängiges Muster, gesellschaftliche Problemlagen auf marginalisierte Gruppen abzuwälzen. Auch die Feindlichkeit gegenüber trans, queeren, behinderten und andere Personen nimmt zu. Wir sind immer alle mitgemeint als Betroffene. Als adis stehen wir für eine intersektionale Solidarität und Stärkung zwischen Communities. Und es braucht die Solidarität von Nicht-Betroffenen – wenn nicht jetzt, wann dann?

 

Wir sind da!

Als Antidiskriminierungsstelle stehen wir für eine Gesellschaft ein, in der jede Person alle Facetten ihrer Identität in Würde und gleichen Rechten leben kann. Wir lassen uns nicht gegeneinander aufbringen und spalten. Schwarz, Muslimisch, Jüdisch, Trans, Queer, Behindert, Arm, Geflüchtet und viel mehr: Wir alle sind das Tübinger Stadtbild!