Ein dringender Appell – Anonym – Tübingen
27. Januar 2025
Ich erinnere mich daran, wie mein Opa – ich war ein Kleinkind – mit seinen Kumpels über die Ausländer gelästert haben. Wie schlimm die alle sind. Alle Kategorien abgeklappert, aber am schlimmsten seien die N.. Damals war ich klein, ich habe mich unwohl gefühlt. Mein Opa war überzeugter Rassist, er hat die NPD gewählt. Aber ich hatte als Kind und Jugendliche nicht die Rolle und das Standing, um mich zu wehren.
Und ich erinnere mich, wie meine Uroma in ihrem Wohnzimmer saß und über „die anderen“ abgelästert hat. Aber der „Türk“, der sei ja besonders schlimm. Auch damals war ich ein Kind und habe mich schlecht gefühlt. Aber kann sich ein Kind gegen eine schwäbische Uroma wehren?
Als Jugendliche, als ich im Dating-Alter war, hat mich meine Oma gewarnt, dass ich vor den geflüchteten Männern besonders aufpassen soll. Kurz vor ihrem Tod hat sie mir erzählt, dass mindestens einer ihrer Ehepartner sie jahrelang psychisch misshandelt hat. Er war weiß und schwäbisch. Sind deswegen alle weißen schwäbischen Männer Misshandler?
Ich liebe meine Familie. Mein Opa hat mich geliebt. Meine Uroma hat mich geliebt. Meine Oma hat mich geliebt. Ihre Schwarze Enkelin. Es war halt diese schwäbische Liebe. Sparsam, ziemlich harsch, aber aus vollem Herzen. Meine Uroma und mein Opa sind gestorben, bevor ich alt genug war, mich gegen ihren Rassismus zu wehren. Wenn meine Oma abwertend über Geflüchtete sprach, habe ich es als junge Erwachsene ignoriert. Aber es macht mich bis heute traurig.
Ich fühle mich so sehr verbunden mit meinen schwäbischen Ahnen. Mein Opa hat mit mir die tollsten Ausflüge gemacht. In seinem Garten hatte ich die schönsten Zeiten als Kind. Meine Oma hat mich immer bekocht, das war ihre Art, ihre Liebe zu zeigen. Wir haben uns stundenlang über schwäbische Rezepte unterhalten. Weil über Politik zu sprechen, wäre wahrscheinlich schief gelaufen …
Wenn ich über meinen deutschen Teil der Familie nachdenke, fühle ich mich warm und behütet. Gleichzeitig tut es weh und es wird mir kalt und unwohl.
Meine Urgroßeltern und Großeltern haben den Krieg überlebt. Mein leiblicher Uropa ist im Krieg gefallen. Meine Uroma hat ihn bis an ihr Lebensende vermisst. Sie hat mir immer erzählt, wie sie im Krieg fast verhungert sind. Meine Oma ist mit mir durch Rottenburg gelaufen und hat mir erzählt, wie es für sie als Kind war, sich in einem Bunker zu verstecken, während draußen Bombenalarm war. Ich weiß nicht, was meine Familie über den Nationalsozialismus dachte. Ich weiß nur, dass sie sich ihr Geld sehr hart erarbeitet haben. Ich weiß, dass sie aus einfachen Verhältnissen kamen, aber es geschafft haben, wohlhabend zu werden. Ich weiß auch, dass sie immer Angst hatten, dass irgendwo irgendwer ihnen etwas Böses wollte und ihnen etwas nehmen wollte. Und das waren immer „die Ausländer“, „die Geflüchteten“, „die Schwarzen“.
Ich frage mich oft, was ich meinen Vorfahr*innen heute sagen würde. Und ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich würde ich mich bei ihnen bedanken, weil ich ohne sie nicht hier wäre. Ich würde meiner Uroma sagen, dass ich ihr Essen sehr gemocht habe. Und dass es mich als Kind belastet hat, wenn sie schlecht über „Ausländer“ gesprochen hat. Ich würde meinem Opa sagen, dass ich seine Liebe zu schätzen weiß. Aber dass seine rassistischen Sprüche (auch zu mir oder über mich) meinem Selbstbewusstsein geschadet haben. Und dass er eigentlich ein sehr gutes, wohlhabendes Leben hatte und ihm niemand irgendetwas weggenommen hat.
Die Zeit kann ich nicht mehr zurückdrehen. Diese Gespräche kann ich nicht mehr führen. Es hat sich aber auch etwas geändert. Ich bin kein Kind mehr. Inzwischen habe ich meine Sprachfähigkeit gefunden. Daher appelliere ich an alle erwachsenen Menschen: Wir sind die Vorbilder für die jüngere Generation. Viele von uns sehen die aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen. Wir kennen die Geschichten unserer Eltern und Großeltern aus erster Hand. Warum werden wir nicht laut? Warum nicht am Familientisch? Warum nicht am Arbeitsplatz? Warum nicht in der Öffentlichkeit? Ihr seid sprachfähige Erwachsene. Nutzt euer Privileg und seid Vorbilder. Werdet laut!
Es gibt viele Menschen in diesem Land, auch in dieser Stadt, die rassistisch denken und agieren. Zu oft hören wir weg. Zu oft sehen wir weg. Aber dieses Wegschauen und Wegsehen hat fatale Folgen. Menschen werden auf offener Straße rassistisch angegangen. Menschen fürchten um ihre Existenz. Es geht um Leben und Tod. Unsere Toleranz rechten Denkens hat zur Folge, dass Menschen in diesem Land Angst um ihr Leben haben. Wir überlegen, wohin wir im Notfall auswandern könnten. Auch wenn Tübingen sehr idyllisch ist. Auch hier gibt es Menschen, die Menschen wie mich und meine Familie verachten und nicht hier haben wollen. Wenn es jetzt nicht aufhört, werden wir bald auch in Tübingen um Menschen trauern. Trauern, weil sie abgeschoben wurden. Trauern, weil sie freiwillig ausgereist oder ausgewandert sind. Trauern, weil immer mehr Menschen rassistische Angriffe erleben. Trauern, weil Menschen sich für den Tod entscheiden werden.
Weil: Rassismus tötet.